«Lehren aus Covidkrise jetzt ziehen»
Bericht zum Anlass «Politik ⇄ Wissenschaft: gemeinsam Lösungen erarbeiten», 20. Mai 2022, Bern
Akute und chronische Krisen beschäftigen Wissenschaft und Politik in gleichem Mass. In einer Gesprächsrunde berichteten Bundeskanzler, Mitglied Covid-Taskforce und Politikwissenschafterin, welche Lehren aus der COVID-Pandemie zu ziehen sind und wie sich Wissenschaft und Politik in der Schweiz ändern sollten.
«Wir müssen das Vorgehen, die Rollen und die Verantwortung besser definieren, damit wir in einer nächsten Krise besser miteinander und voneinander lernen können.» Marcel Tanner, Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz und ehemaliges Mitglied der COVID-Taskforce, bilanzierte fachlich präzis und engagiert den Anlass «Politik ⇄ Wissenschaft: gemeinsam Lösungen erarbeiten» am 20. Mai 2022 in Bern. Ganz besonders appellierte Tanner an die Verantwortung. Im Saal sassen nebst erfahrenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auch Bundeskanzler Walter Thurnherr, Ständerat Matthias Michel, die Direktorin des Bundesamts für Umwelt, Katrin Schneeberger, sowie Lokalpolitiker und Vertreterinnen von Nichtregierungsorganisationen, insgesamt rund 100 Teilnehmende.
Die vielen «Übertragungsriemen» zwischen Wissenschaft und Politik müssten gestärkt werden, fordert Tanner. Dabei brauche es einen ständigen Austausch, um gemeinsam taugliche Lösungen zu finden. Es reiche nicht, wenn die Wissenschaft einfach Berichte liefere. Als entscheidend erachtet Tanner einen Wandel der Wissenschaftskultur, die heute einen guten Austausch mit Gesellschaft und Politik nicht fördere.
«Erfahrung, Ehrgeiz und Eitelkeiten»
«Wissenschaft und Politik leben in unterschiedlichen Welten», stellte Bundeskanzler Walter Thurnherr klar. Beide Welten seien «kompliziert und komplex» und würden sich durch «Erfahrung, Ehrgeiz und Eitelkeiten» auszeichnen. Thurnherr sprach sich für formellen wie informellen Dialog zwischen den Krisen aus; und nicht nur in der Krise. Man müsse die wissenschaftliche Kompetenz abholen und das Netzwerk im Normalfall mandatieren und im Krisenfall aktivieren. So habe man die «Seuche» gut überstanden und die Schlussfolgerung habe sich durchgesetzt: «Wenn die Wissenschaft nicht wäre, ginge es uns schlechter», sagte der studierte Physiker. Thurnherr rief dazu auf, die während der Covidkrise aufgeworfenen Fragen jetzt zu beantworten und nicht einfach zum Tagesgeschäft überzugehen.
Nähe, Einfluss, Abhängigkeiten
Eine kritische Bestandesaufnahme der Instrumente der wissenschaftlichen Politikberatung präsentierte Sabine Süsstrunk und kündigte eine umfassende Publikation für den Sommer an. Die Präsidentin des Schweizerischen Wissenschaftsrats warb für ein besseres Verständnis für bestehende Mechanismen der Politikberatung. Sie analysierte die Bedeutung von Ausserparlamentarischen Kommissionen, Ressortforschung oder Ad hoc ExpertInnen-Kommissionen für das Krisenmanagement. Süsstrunk folgerte, dass es kein einheitliches politisches Beratungssystem für alle Arten von Krisen gebe. Die Nähe zu Regierung und Verwaltung führe zwar zu mehr Einfluss, könne aber im Gegenzug die Unabhängigkeit gefährden: «Breite ExpertInnen-Netzwerke sind kein Ersatz für institutionelle Strukturen.» Ad-Hoc-Gremien müssten Vertrauen erst aufbauen und Ziele definieren. Die Wissenschaftlerin erinnerte auch daran, dass viele Forschende keine Schweizer Wurzeln haben und das politische System und den Föderalismus kennenlernen müssen. «Hier besteht Bedarf.»
Zentrale Anlaufstelle für Politiker
Ständerat Matthias Michel hob in der Podiumsdiskussion den engen Kontakt hervor, der in vorberatenden Kommissionen des Parlaments mit WissenschaftlerInnen zustande komme. «Hier geht der Austausch in die Tiefe», so der FDP-Ständerat aus dem Kanton Zug. Die vielen Dokumentationen und die ausserparlamentarischen Informationsanlässe seien für Milizparlamentarier zwar «nett, aber nur Eintagsfliegen». Michel machte sich für eine zentrale Anlaufstelle der Forschungsinstitutionen stark. Er machte darauf aufmerksam, dass der «Bildungsvorsprung» von Wissenschaft, Verwaltung und Bundesrat für die Räte und Gesetzgeber sehr gross sei: «Sie müssen das Wissen zu uns Kreditsprechern und Gesetzgebenden bringen.»
Die Verwaltungsperspektive nahm Katrin Schneeberger ein. Die Direktorin des Bundesamts für Umwelt (BAFU) hob die «eminent wichtige Rolle» der Wissenschaft hervor. Allerdings sei sie in ihrer Funktion gefordert und bisweilen überfordert, die komplexen Sachverhalte für die Politik aufzuarbeiten. «Die Wissenschaft ist gefordert, einfacher zu kommunizieren», so Schneeberger. Sie betonte, dass aus ihrer Sicht flexible wissenschaftliche Netzwerke eher geeignet seien als fixe Gremien, um der Vielfalt an Themen und Fragen gerecht zu werden.
Wissenschaft soll breiter denken
Klimaforscher Reto Knutti erinnerte gerade jüngere Forschende daran, sich aktiv in den Dialog einzubringen. «Vertrauen – oder mangelndes Vertrauen – sei der Punkt», so Knutti. Wenn gegenseitiges Interesse herrsche, sei das Potenzial riesig. Das habe man in Deutschland und der Physikerin Angela Merkel als Kanzlerin gesehen. Knutti machte darauf aufmerksam, dass es problematisch sei, wenn die Empfänger von Resultaten und die Finanzierer die gleichen seien. Das erschwere es der Wissenschaft, unangenehme Resultate zu kommunizieren. Zudem müsse die Wissenschaft nicht nur auf Fragen reagieren, sondern breiter denken und mit der Politik auch neue Themen ansprechen.
«Es ist ein historischer Moment für die wissenschaftliche Politikberatung», sagte Alexandra Hofmänner. Die Soziologin mit Fachbereich Wissenschafts- und Technikforschung hat die Rolle der Wissenschaft zur Bewältigung der Covid-19-Pandemie von Januar bis Dezember 2020 analysiert. Aus den Schlussfolgerungen ihrer Arbeit hob sie hervor, dass nebst der Überprüfung der gesetzlichen Grundlagen die Politikberatung professionalisiert werden müsse. Sie spreche nicht nur von Strukturen, sondern besonders von den Prozessen und der Qualität. Alexandra Hofmänner sagte, dass der Bund gefordert sei und Debatten ausserhalb der existierenden Institutionen geführt werden müssen. «Viele Länder investieren nun, um den Dialog zwischen Politik und Wissenschaften zu professionalisieren. Der Bund steht vor der Entscheidung, ob er dies auch tun möchte», sagt die Soziologin.
Text: This Rutishauser, kontextlabor.ch