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Wege in die Ernährungszukunft der Schweiz

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Die weltweiten Geschehnisse der letzten drei Jahre haben gezeigt, dass unser Ernährungssystem nicht resilient ist. Um dies zu ändern, haben Expertinnen und Experten einen politischen Leitfaden für ein nachhaltiges Schweizer Ernährungssystem verfasst.

Die Illustration zeigt die erreichte Transformation des Schweizer Ernährungssystems mit Informations- und bildungsorientierten Massnahmen, positiven und negativen Anreizinstrumenten und regulatorischen Instrumenten.
Image: Fesenfeld et al. (2023)/Telek

Text: Sol Kislig und , Universität Bern

Kriege, Pandemien, der voranschreitende Klimawandel und Biodiversitätsverlust üben einen erhöhten Druck auf die globalisierten Lieferketten aus. Als Folge ist die Versorgungssicherheit nicht mehr gewährleistet und es entstehen soziale Unruhen. Unser Ernährungssystem ist gleichzeitig ein entscheidender Treiber dieser Krisen. Es ist für rund 30 Prozent der globalen Treibhausgase verantwortlich und trägt substanziell zum Verlust der Artenvielfalt bei.1 Rückkopplungseffekte zwischen Klima- und Biodiversitätskrise (z. B. im Amazonas) können gefährliche Kipppunkte in Ökosystemen auslösen und die existenziellen Herausforderungen für die globale Ernährungssicherheit rasch erhöhen.2

Eine Transformation des Ernährungssystems im Einklang mit den UN-Nachhaltigkeitszielen (SDGs) und dem Pariser Klimaabkommen ist deshalb notwendig und dringend. Doch was diesbezüglich in der Schweiz getan wird, reicht nicht aus. So verharrt der Nitratanteil im Grundwasser seit 2002 auf einem international hohen Niveau, was für Mensch und Umwelt gesundheitliche Risiken birgt.3, 4 Ausserdem fallen rund 70 Prozent der Treibhausgasemissionen, die durch den Konsum von Lebensmitteln in der Schweiz verursacht werden, im Ausland an.5 Die Schweiz hängt somit einerseits von funktionierenden globalen Ökosystemen und Wertschöpfungsketten ab, sie trägt anderseits auch eine Mitverantwortung, das Ernährungssystem ausserhalb der Landesgrenzen nachhaltig zu gestalten.

Umfassende Ernährungssystem-Perspektive

Die Transformation des Schweizer Ernährungssystems ist schwierig. Interessenkonflikte, Widerstand gegen Veränderungen und Verlustängste erschweren die Umsetzung nachhaltiger Massnahmen. Deshalb stossen Reformen der Agrarpolitik und Initiativen oftmals auf heftigen Widerstand.

Aus diesem Grund ist es unumgänglich, bei politischen Entscheidungen eine ganzheitliche Ernährungssystem-Perspektive einzunehmen, welche die gesamte Wertschöpfungskette umfasst. Den Rahmen dazu bilden die 17 SDGs, welche die Schweiz gemeinsam mit allen UN-Mitgliedern unterzeichnet hat.6 Neben ökologischen müssen auch wirtschaftliche, gesundheitliche und soziale Aspekte berücksichtigt werden. Zu letzteren gehören etwa die oft geringen Einkommen in der Ernährungswirtschaft. Es ist besonders wichtig, einen sozial gerechten Wandel sicherzustellen. Die Leistung und Bedürfnisse der Akteurinnen und Akteure des Ernährungssystems müssen wertgeschätzt und allfällige Kosten gerecht verteilt und kompensiert werden. Diskussionsschwerpunkt sollten die Chancen des Wandels sein. Diese überwiegen eindeutig die Kosten des Nichthandelns.

Es gilt herauszufinden, wie die bestehenden Interessenkonflikte konsolidiert und Massnahmen ausgestaltet und zeitlich angeordnet werden könnten, damit sie politisch umsetzbar werden. Dies hat ein wissenschaftliches Gremium bestehend aus 42 Expertinnen und Experten im Rahmen des vom Netzwerk für Nachhaltigkeitslösungen (SDSN) Schweiz getragenen Projekts «Ernährungszukunft Schweiz» getan. Eine interdisziplinäre Gruppe erarbeitete die Lösungsvorschläge für eine Transformation und formulierte einen Leitfaden mit konkreten Transformationszielen und Massnahmen.7

Transformationsfonds als Grundlage

In der ersten Phase empfiehlt das wissenschaftliche Gremium bis 2025 den Aufbau eines Transformationsfonds. Damit sollten zeitnah informations- und bildungsorientierte Massnahmen sowie positive Anreizinstrumente finanziert werden. Dies könnten beispielsweise Aus- und Weiterbildungsprogramme für relevante Berufe oder Förderprogramme für Junglandwirtinnen und -wirte sein. Die Unterstützung von Forschung und Innovation im Lebensmittelsektor, Umstellungsprämien für landwirtschaftliche Betriebe und der Ausbau nachhaltiger Angebote in der Ausser-Haus-Verpflegung sind zentrale Bestandteile des Fonds. Er dient als Grundlage, um neue Wertschöpfungsmöglichkeiten zu generieren, gesellschaftliche Normen zu wandeln und die Akzeptanz weitergehender Massnahmen in späteren Phasen zu erhöhen. Der Fonds könnte zu Beginn aus zusätzlichen Mitteln des Bundeshaushalts und privaten Mitteln gespeist werden und später durch neue Lenkungsabgaben und die Umwidmung bestehender Mittel erweitert werden. Ein weiterer wichtiger Ansatz ist der Fokus auf die gezielte Förderung von Akteuren entlang der Wertschöpfungskette und geht über die bestehende Agrarpolitik hinaus. Der Fonds soll mit neuen Förderprogrammen gezielt die Chancen des Wandels wie beispielsweise den Aufbau pflanzenbasierter Wertschöpfungsketten hervorheben und nicht Verlustängste nähren und den bürokratischen Aufwand erhöhen.

Die Zukunftskommission Ernährungssystem

Eine weitere zentrale Empfehlung des wissenschaftlichen Gremiums ist die Einrichtung einer Zukunftskommission Ernährungssystem. Diese sollte durch die Legislative offiziell einberufen werden und bezweckt einen beschleunigten, vertraulichen und multilateralen Verhandlungsprozess. Die Teilnahme zentraler Interessenvertretungen, eine neutrale Moderation und eine wissenschaftliche Begleitung sind zu gewährleisten. Zudem sollten Bürgerinnen und Bürger in Beratungsgremien beteiligt werden.

Ein Transformationsfonds und eine Zukunftskommission reichen nicht aus: Massgebend für den Erfolg sind nicht nur die Formulierung von Einzelmassnahmen, sondern vor allem deren Bündelung, strategisches Ineinandergreifen und deren zeitliche Abfolge.

Das wissenschaftliche Gremium schlägt deshalb einen detaillierten, konkreten politischen Handlungspfad vor.7 So können positive soziale Kipppunkte ausgelöst werden, an denen gezielte Interventionen grosse und langfristige Auswirkungen auf die nachhaltige Entwicklung des Systems haben. Sie können dessen Funktionsweise tiefgreifend und sich selbst beschleunigend verändern. Das wissenschaftliche Gremium ist zuversichtlich, dass messbare und evidenzbasierte Zielsetzungen, ein strategischer politischer Handlungspfad sowie eine umfassende Ernährungssystem-Gouvernanz diese positiven Kipppunkte auslösen können.

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Lukas Fesenfeld ist Senior Researcher am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern sowie Dozent an der ETH Zürich. Seine Forschung konzentriert sich auf die Governance und politische Ökonomie zur Erreichung der Pariser Klima-Ziele und UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung.

Sol Kislig arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern.

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Referenzen

[1] Poore J, Nemecek T (2018) Reducing food’s environmental impacts through producers and consumers. Science 360, 987–992.

[2] Armstrong McKay DI et al. (2022) Exceeding 1.5°C global warming could trigger multiple climate tipping points. Science 377, 1135.

[3] Bundesamt für Statistik (2022) Das MONET 2030-Indikatorensystem. bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/nachhaltige-entwicklung/monet-2030.html

[4] Schweizerischer Bundesrat (2022) Die Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung: Länderbericht der Schweiz 2022.

[5] Bundesamt für Umwelt (2022) Kenngrössen zur Entwicklung der Treibhausgasemissionen in der Schweiz 1990–2020. bafu.admin.ch/latest-ghg-inventory

[6] United Nations (2015) Transforming our World: The 2030 Agenda for Sustainable Development. 15-16301 (G) sdgs.un.org/publications/transforming-our-world-2030-agenda-sustainable-development-17981

[7] Fesenfeld L et al. (2023) Wege in die Ernährungszukunft der Schweiz: Leitfaden zu den grössten Hebeln und politischen Pfaden für ein nachhaltiges Ernährungssystem. SDSN Schweiz. 75 S. doi.org/10.5281/zenodo.7543576

Die Illustration zeigt die erreichte Transformation des Schweizer Ernährungssystems mit Informations- und bildungsorientierten Massnahmen, positiven und negativen Anreizinstrumenten und regulatorischen Instrumenten.
Die Illustration zeigt die erreichte Transformation des Schweizer Ernährungssystems mit Informations- und bildungsorientierten Massnahmen, positiven und negativen Anreizinstrumenten und regulatorischen Instrumenten.Image: Fesenfeld et al. (2023)/Telek

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