Das Potenzial liegt brach
ProClim Flash 73
Für die Klimadebatte hält die empirisch fundierte Analyse von sozialen und Geschlechterunterschieden um Verursachung und Folgen des Klimawandels Einsichten bereit. Technologieintensive Lösungen sollten zukünftig mit strukturellen Perspektiven ergänzt werden, um emissionsleichte soziale Innovationen anzustossen.
Text: , Centre for Development and Environment (CDE), Universität Bern
Sieht man von der Pandemie ab, ist Klima das Thema der Stunde, und der Feminismus erlebt eine neue Blüte. Wer die Folgen der Pandemie zu tragen hat, zeigen laufend neu erstellte Berichte: Ältere Menschen, Kinder und Frauen übernehmen einen grösseren Teil, wie drei Expertinnen schätzten.1 Sektoren mit weiblichen Beschäftigten sind durch Lohnausfälle sowie Belastungsspitzen besonders betroffen, dazu kommt die Abfederung der krisenbedingten Ausfälle durch zusätzliche Betreuungs- und Haushaltsarbeiten.
In der Klimadebatte liegen detailliertere Untersuchungen vor, wer die Folgen von Naturkatastrophen besonders tragen muss. 2005 traf der tropische Wirbelsturm Katrina auf die Küste von Louisiana und liess die in die Jahre gekommenen Dämme brechen. Die Bilanz war 1833 Tote, 273 000 Evakuierte, 134 000 zerstörte Häuser und ein Schaden von geschätzten 125 Milliarden US-Dollar.2 Erhellend ist eine Differenzierung der Zahlen nach sozialen Kategorien. Louisiana belegte 2005 den zweitletzten Rang im nationalen Armutsranking. Allein in New Orleans lebten 28 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze, in 56 Prozent der Haushalte lebten alleinerziehende Mütter. Die Opferzahlen verhalten sich jedoch nicht proportional zu den demographischen Fakten – Schwarze, Ältere, Ärmere und Frauen sind deutlich übervertreten.
Extremereignisse verschärfen Ungleichheit
Der Wirbelsturm Katrina ist keine Ausnahme, wie Extremereignisse Strukturen sozialer Ungleichheit verschärfen. Auf der Basis von 4600 Extremwetterereignissen in 141 Ländern zeigten Neumayer und Plümper die systematische Häufung von unterprivilegierten Gruppen unter den Opfern von Naturkatastrophen.3 Der Befund verweist auf die Verletzlichkeit von Frauen und Männern unter den Bedingungen der globalen Erwärmung. Es gibt naheliegende biologische Gründe, warum Frauen im Katastrophenfall härter getroffen werden: Physische Kraft und Schnelligkeit machen den Unterschied, wenn es gilt, sich in Sicherheit zu bringen. Mindestens so ausschlaggebend sind jedoch soziale Zuschreibungen, normative Rollenbilder und strukturelle Ungleichheiten. Die Zuständigkeit für Kinder oder Ältere hält Frauen davon ab, sich auf schnellstem Weg zu retten. Kleidungsvorschriften beinträchtigen die Bewegungsfreiheit. Der Zugang zu Information, Ressourcen oder einem Auto kann über Leben und Tod entscheiden. Männer kann es treffen, wenn sie im Bestreben, dem Ideal als Beschützer zu entsprechen, Risiken falsch einschätzen. Die Handlungsmöglichkeiten schrumpfen weiter, wenn ethnische Marginalisierung oder Zurücksetzung aufgrund der sozialen Klasse hinzukommen.
Kleinerer CO2-Fussabdruck von Frauen?
Der weiblichen Betroffenheit steht die verhältnismässig kleinere Verantwortung in Bezug auf die Ursachen der globalen Erwärmung gegenüber. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass der CO2-Fussabdruck von Frauen kleiner ist als jener der Männer. Empirisch ist dies schwierig zu untermauern, weil Konsum- und Einkommenserhebungen auf Haushaltebene gemacht und statistische Daten unzureichend nach Geschlechtern getrennt erhoben werden.
Allein aufgrund des geschlechtsspezifischen Vermögens- und Lohngefälles kann man davon ausgehen, dass Frauen weniger beisteuern.4 Ihre Übervertretung in CO2-leichten Wirtschaftssektoren wie Bildung, Gesundheit und unbezahlter Care-Arbeit verstärkt diese These. Frauen besitzen rund 40 Prozent weniger5, ihre Pendeldistanzen sind kleiner6 und ihr Fleischkonsum ist circa 36 Prozent geringer7. In der Schweiz leisten Frauen 60 Prozent der unbezahlten Arbeit.8 Gleichzeitig sitzen in Schweizer Führungsetagen nur 9 Prozent Frauen, bei klimarelevanten Entscheidfindungen sind sie tendenziell in der Minderheit, genauso wie in den Ingenieurwissenschaften. Schliesslich scheinen Frauen eher bereit, ihr Verhalten zu Gunsten der Umwelt zu ändern.9 Diese Unterschiede erfordern neue Wege der Anpassung an die globale Erwärmung, dürften diese Verhältnisse doch in Ländern, wo die Rollenteilung ausgeprägter ist, noch akzentuierter ausfallen.
Die gleichzeitige Bekämpfung von Ungleichheit und globaler Erwärmung führt zur eigentlichen Herausforderung in der Klimadebatte. Das Potenzial der Genderperspektive liegt jedoch brach. Der Klimawandel wird primär als Systemstörung debattiert. Systemstabilisierung heisst die Antwort und mit ihr werden traditionelle, patriarchale Geschlechterrollen transportiert.
Robuste Indikatoren für eine geschlechtergerechte Klimapolitik
Eine Genderanalyse untersucht systematisch die Grundsätze und Kriterien, nach denen klimarelevante Entscheidungsprozesse in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gestaltet werden. «Neutrale» Perspektiven auf klassische Handlungsfelder wie Verkehr und Konsum blenden in der Tendenz weibliche Lebensrealitäten aus, was dazu führt, dass der motorisierte Privatverkehr gegenüber anderen Mobilitätsformen bevorzugt wird. Konventionelle Analysen im Handlungsfeld «Konsum» fokussieren auf Kauf und Verkauf von Produkten, blinde Flecken treten hinsichtlich der Nutzung, des Verbrauchs, der Instandhaltung und Entsorgung auf.10
Systemische Verflechtungen verschiedener Nachhaltigkeitsziele zeichnen sich ab: Werden im Zuge des Umbaus von emissionsschweren Industriearbeitsplätzen Männer und Frauen in gleicher Weise umgeschult? Fliessen Kompensationszahlungen auch in Branchen, in denen mehrheitlich Frauen beschäftigt sind? Erfüllen klimagesteuerte Anreizprogramme den Anspruch, geschlechtergerecht zu sein, wenn etwa Abwrackprämien vor allem der Autoindustrie dienen.Weibliche Tätigkeitsfelder im Bildungs- und Gesundheitsbereich, die ressourcenleicht sind, gehen in staatlichen Investitionsprogrammen häufig leer aus.
Eine Genderanalyse fokussiert auf die Machtverhältnisse in der Verhandlung um Zielkonflikte, die die grösste Herausforderung der Nachhaltigen Entwicklung sind. Mittels transparenter Information und gestützt auf systematisch nach Geschlecht aufgeschlüsselten Daten wird die Ideologieanfälligkeit dieser Güterabwägungen reduziert. Doch nicht nur das: Derartige Analysen lenken den Blick auf strukturelle Faktoren, die Veränderung dauerhaft blockieren, und eröffnen Perspektiven zur Transformation, ohne die die Klimaziele in weite Ferne rücken. Damit Pfadabhängigkeiten überwunden werden und die Klimapolitik zu wirksamen Resultaten führt, müssen nebst den traditionell technischen Lösungsansätzen von Anfang an neue, geschlechterspezifische und durch solide Indikatoren identifizierte, erweiterte soziale Perspektiven mitberücksichtigt werden.
Referenzen
8BFS (2017) Die unbezahlte Arbeit ist 408 Milliarden Franken wert. Bundesamt für Statistik. Medienmitteilung Nr. 2017-0252-D vom 11.12.2017.
1Blaskó Z, Papadimitriou E, Manca, AR (2020) How will the COVID-19 crisis affect existing gender divides in Europe?, Publications Office of the European Union, Luxembourg, doi:10.2760/37511, JRC120525.
6BFS, ARE (2017) Verkehrsverhalten der Bevölkerung. Ergebnisse des Mikrozensus Mobilität und Verkehr 2015. Bundesamt für Statistik und Bundesamt für Raumentwicklung, Neuchâtel und Bern.
7BLV (2017) MenuCH. Fachinformation Ernährung. Bundesamt für Lebensmittel und Veterinärwesen. https://www.blv.admin.ch/blv/de/home/dokumentation/nsb-news-list.msg-id-66016.html
9Bruderer Enzler H, Diekmann A (2019) All talk and no action? An analysis of environmental concern, income and greenhouse gas emissions in Switzerland. Energy Research & Social Science, 51: 12-19.
5Credit Suisse Research Institute (2020) GWR Global Wealth Report 2020. URL: https://www.credit-suisse.com/about-us/en/reports-research/global-wealth-report.html
4Kartha S, Kemp-Benedict E, Ghosh E, Nazareth A (2020) The carbon inequality era. An assessment of the global distribution of consumption emissions among individuals from 1990 to 2015 and beyond. Stockholm Environment Institute.
3Neumayer E, Plümper T (2007) The Gendered Nature of Natural Disasters: The Impact of Catastrophic Events on the Gender Gap in Life Expectancy, 1981–2002. Annals of the Association of American Geographers, 97(3), 551–566.
10Spitzner M et al. (2020) Interdependente Genderaspekte der Klimapolitik.Umweltbundesamt. The Editors of Encyclopaedia Britannica (2020) Hurricane Katrina. Encyclopædia Britannica Date Published September 23, 2020. https://www.britannica.com/event/Hurricane-Katrina