«Aufbau der ökologischen Infrastruktur kann die Trendwende bringen»
Carte blanche für Rolf Holderegger, Eidgenössische Forschungsanstalt WSL und ETH Zürich
6.6.2023 – Das Know-how, wie man die biologische Vielfalt in der Schweiz fördern kann, wäre vorhanden. Trotzdem steht es schlecht um viele Lebensräume und Arten. Denn bei der Umsetzung hapert es nach wie vor. Die ökologische Infrastruktur kann die notwendige Trendwende bringen.
Der Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder und muss nicht mit der Haltung der SCNAT übereinstimmen.
Die Schweiz besitzt eine eindrückliche Vielfalt an Landschaften: von den rechtsrheinischen Gebieten bei Basel und Schaffhausen, über die Juraketten, durch das seenreiche Mittelland, über Hügel zu den Voralpen und ins Hochgebirge, durch die trockenen, inneralpinen Täler bis ins südliche Tessin. Diese Vielfalt an Landschaften bringt einen grossen Reichtum an Lebensräumen und Tier-, Pflanzen- und Pilzarten hervor. Doch diese Vielfalt in der Schweiz ist bedroht. Das zeigen zwei Berichte, die das Bundesamt für Umwelt kürzlich veröffentlicht hat. Rund die Hälfte der Lebensräume ist gefährdet, bei den Arten sind es 35 Prozent. Einige Lebensräume sind bis auf kleinste Überbleibsel verschwunden und 245 Arten sind in der Schweiz bereits ausgestorben, sieben davon weltweit.
Wir wüssten, wie es ginge
Doch es gibt Lichtblicke. So geht es den Hochmooren im Mittelland besser als vor einigen Jahren. Hochmoore wurden bis nach dem zweiten Weltkrieg entwässert und ihr Torf abgebaut. Anschliessend wurden sie landwirtschaftlich genutzt oder aufgeforstet. Wieso zeigt sich gerade bei den Hochmooren im Mittelland eine positive Entwicklung? Der Grund ist naheliegend: Weil sich dort, wo Schutzmassnahmen getroffen werden, Erfolg einstellt. Im Mittelland wurden viele Hochmoore wiederhergestellt, die Entwässerungen aufgehoben und die Verbuschung rückgängig gemacht. Die typischen Torfmoose gedeihen wieder.
Tatsächlich ist bei Bund, Kantonen, Städten und Gemeinden, Naturschutzorganisationen, Planungsbüros, Bauern und Bäuerinnen, Förstern und Försterinnen und der Forschung viel Know-how vorhanden, wie Lebensräume und Arten gefördert werden können. Wir wissen also, wie es geht. Wieso sind die Roten Listen der gefährdeten Arten und Lebensräume in der Schweiz trotzdem so lang? Die Antwort ist so kurz wie einleuchtend: Weil wir unsere Kenntnisse zu wenig anwenden, weil die Massnahmen oft nicht genügend umgesetzt werden. Weder liegen Lebensräume in genügender Qualität und Anzahl vor, noch sind sie miteinander vernetzt. Zudem stehen den Schutzbemühungen negative Treiber des Biodiversitätsverlustes gegenüber und diese übersteuern. Das sind beispielsweise Subventionen, die die Biodiversität schädigen, oder hohe Nährstoffeinträge.
Alle gesellschaftlichen Akteure müssen am gleichen Strick ziehen
Warum wird das bestehende Wissen nicht angewendet? Der Wille, der Biodiversität das nötige Gewicht gegenüber anderen Ansprüchen zu geben, fehlt oft. Die Biodiversitätsstrategie der Schweiz gibt Gegensteuer. Damit die Biodiversität langfristig gesichert wird, hat der Bundesrat den Aufbau einer so genannten ökologischen Infrastruktur als Ziel gesetzt. Eine ökologische Infrastruktur ist ein Netzwerk von hochwertigen Lebensräumen, die miteinander verbunden sind. Dabei werden sowohl die Qualität und die Anzahl der Lebensräume als auch deren räumliche Vernetzung über die ganze Schweiz hinweg geplant.
Die ökologische Infrastruktur – als Herzstück der Biodiversitätsstrategie des Bundes – soll Lebensräume und Arten langfristig sichern. Zurzeit planen die Kantone mithilfe des Bundes diese ökologische Infrastruktur, sowohl im Landwirtschaftsland, im Wald, für die Gewässer, im Gebirge und auch in den Siedlungen. Ich bin zuversichtlich, dass das Ziel einer zukunftsorientierten ökologischen Infrastruktur erreicht wird. Dazu müssen alle gesellschaftlichen Akteure am gleichen Strick ziehen. Es wäre schade, wenn die Schweiz diese einmalige Chance zur langfristigen Sicherung ihrer Natur verpassen würde. Denn Biodiversität ist nicht eine «nette» Nebensache, sondern eine notwendige Hauptsache für eine lebenswerte Schweiz.
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Rolf Holderegger leitet die Forschungseinheit Biodiversität und Naturschutzbiologie der Eidgenössischen Forschungsanstalt WSL. Zudem ist er Professor für Naturschutzbiologie an der ETH Zürich.
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