«Für einen wirklich demokratischen Zugang zu wissenschaftlichen Ergebnissen»
Carte blanche für Stéphanie Girardclos und Jérôme Kasparian, Universität Genf
3.3.2023 – Open Access, der offene Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen, will die Ergebnisse der Forschung allen zugänglich machen und die Abonnementskosten reduzieren. Allerdings verstärkt das aktuelle Modell der grossen Verlage deren Vormachtstellung. Um die Kontrolle über ihre Publikationen zurückzuerlangen, sollte die wissenschaftliche Gemeinschaft ihre eigene Verlagspolitik und Preisgestaltung festlegen und die Rolle der kommerziellen Verlage auf die technische Umsetzung beschränken.
Der Beitrag gibt die persönliche Meinung der Schreibenden wieder und muss nicht mit der Haltung der SCNAT übereinstimmen.
Der möglichst freie Zugang zu den Ergebnissen der öffentlichen Forschung ist untrennbar mit den Werten der Offenheit und der Universalität verbunden, die der Wissenschaft zugrunde liegen. Dieser Grundsatz ist zu einem Leitgedanken der Open-Science-Bewegung geworden. Der wohl symbolträchtigste Aspekt ist Open Access: ein Konzept, mit dem versucht wird, die von einigen grossen internationalen Verlagen ausgeübte Kontrolle über wissenschaftliche Zeitschriften und deren enorme Kosten zu überwinden. In den letzten drei Jahrzehnten sind zahlreiche Initiativen entstanden – von der Bereitstellung von Preprint-Servern und kostenlosen Fachzeitschriften bis hin zum Plan S von Science Europe, der einen freien Zugang zur öffentlichen europäischen Forschung fordert.
Die aktuelle Entwicklung von Open Access ist für öffentliche Institutionen aber paradoxerweise kontraproduktiv. Read-and-Publish-Vereinbarungen, die das Lesen und Publizieren von Open-Access-Artikeln für viele Zeitschriften umfassen, sind sogar noch teurer als das alte System mit Lese-Abonnements. Zudem können solche Vereinbarungen nur mit einer begrenzten Anzahl von Verlagen ausgehandelt werden, wodurch die unzähligen Kleinverlage, die für die Vielfalt der wissenschaftlichen Verlagslandschaft sorgen, auf der Strecke bleiben. Letztlich stärkt das von den grossen Verlagen praktizierte Open-Access-Modell deren kommerzielle Vormachtstellung, statt den Zugang zur Wissenschaft zu öffnen.
Open Access erhöht die Publikationskosten, statt sie zu senken
Hinzu kommt, dass die grossen Verlage einen juristischen Winkelzug nutzen, um sich die Urheberrechte zu sichern (Blog sOApbox), was gegen den Open-Access-Gedanken verstösst. So müssen Forschungsteams für die Publikation ihrer Ergebnisse bezahlen und ihr Urheberrecht gemäss den Bedingungen des Gesamtvertrags ausüben, ohne verhandeln zu können. Da die Bewertung von Karrieren und Forschungsteams weiterhin stark auf Publikationen in renommierten Zeitschriften beruht, sind Forschende bereit, auf ihr Urheberrecht zu verzichten und die Kosten für die Veröffentlichung eines Open-Access-Artikels, die sich auf bis zu 10'000 CHF belaufen können, über ihr Forschungsbudget zu begleichen! Die Möglichkeit, Wissen zu publizieren und an die Gesellschaft weiterzugeben, wird so von einer wirtschaftlichen Kraft abhängig gemacht, was den demokratischen und egalitären Prinzipien von Open Science diametral widerspricht.
Das von den grossen Verlagen eingeführte Open-Access-Modell weckt aber auch grundlegendere Bedenken. Das Hosting von digitalen Artikeln «für die Ewigkeit» ist mit wiederkehrenden Kosten verbunden, die für ein kommerzielles Unternehmen nur dann tragbar sind, wenn die Zahl der publizierten und damit in Rechnung gestellten Artikel so stark zunimmt, dass sie die Pflege aller bisherigen Publikationen abdeckt. Dieses Geschäftsmodell basiert also auf einem unendlichen Wachstum oder prosaischer ausgedrückt auf einem Ponzi-System.
Die wissenschaftliche Gemeinschaft muss wieder die Kontrolle übernehmen
Um ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von grossen Verlagen zu vermindern und bereits publizierte Artikel dauerhaft verfügbar zu machen, muss die wissenschaftliche Gemeinschaft die Kontrolle über das öffentliche Gut – das von ihr produzierte wissenschaftliche Wissen – zurückerlangen. Für die Schweiz schlagen wir vor, dass Institutionen wie der Schweizerische Nationalfonds, die Akademien und die Hochschulen zusammen mit den wissenschaftlichen Gesellschaften Konsortien bilden, die die Verantwortung für die Zeitschriften übernehmen und deren Publikationspolitik in Bezug auf Qualität, Urheberrecht und Preispolitik festlegen. Die technische Umsetzung kann dann gemäss den aktuellen Standards und Anforderungen und mittels Ausschreibungen an kommerzielle Verlage delegiert werden. Dieser Ansatz würde die Wissenschaft rasch von der finanziellen und rechtlichen Vereinnahmung des Wissens, das mit öffentlichen Mitteln erzeugt wurde, befreien und ihr zugleich die Möglichkeit bieten, vom technischen Know-how der grossen Verlage zu profitieren.
Ein wirklich offener Zugang zu wissenschaftlichen Publikationen sowohl bezüglich Lesen als auch Publizieren ist eine zentrale Herausforderung, der sich die wissenschaftliche Gemeinschaft unbedingt stellen muss. Nur dann kann sie die Offenheit und den Anspruch auf Qualität und Vertrauen in die Wissenschaft bewahren.
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Stéphanie Girardclos ist Lehr- und Forschungsbeauftragte an der Universität Genf und war an der Gründung des EarthArXiv Preprints Servers beteiligt. Jérôme Kasparian ist Professor an der Universität Genf. Beide gehörten zur Arbeitsgruppe, die das Factsheet «Open Science in Switzerland: Opportunities and challenges» initiiert hat.
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