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Eine Frage des Masses

ProClim Flash 73

Menschen mit tiefen Einkommen leiden in Städten stärker unter Umweltbelastungen und sozialem Stress als besserbetuchte. Eine Politik der Suffizienz macht urbane Räume nicht nur ökologischer, sondern auch sozial gerechter und krisenfester.

Seit 1970 steigt der durchschnittliche Wohnflächenverbrauch pro Person um 70 Prozent, die Anzahl der Autos pro 1000 Einwohner*innen um141 Prozent. Die Suffizienzpolitik zeigt, welche Möglichkeiten es git, die Bedürfnisse nach Raum, Mobilität und Lebensqualität auf eine nachhaltige Weise zu befriedigen. (ProClim Flash 73)
Image: Hannah Ambühl, ProClim

Text: Michaela Christ und Jonas Lage, Norbert Elias Centre for Transformation Design & Research, Europa-Universität Flensburg

Die Corona-Pandemie macht einmal mehr deutlich: Menschen aus unteren Einkommensgruppen sind in Krisenzeiten besonders verletzlich. Wer die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit und andere soziale und wirtschaftliche Folgen des Lockdowns in beengten Verhältnissen, mit geringen finanziellen Mitteln und nur begrenztem Zugang zu Freiräumen bewältigen muss, ist grösseren Belastungen ausgesetzt, als jemand im Einfamilienhaus mit Garten oder als Menschen, die auf den öffentlichen Verkehr verzichten und das eigene Auto nutzen können.

Weniger Einkommen, grössere Belastung

In der Schweiz stieg die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich, nämlich von rund 27 Quadratmetern im Jahr 1970 auf heute rund 46 Quadratmeter. Dabei leben Menschen in von Armut betroffenen Haushalten häufiger in kleineren Wohnungen in ungünstigen Lagen als Menschen aus höheren Einkommensgruppen. Sie geben zudem einen erheblich höheren Anteil des Einkommens für das Wohnen aus. So wenden Haushalte mit einem Brutto-Haushaltseinkommen von weniger als 4000 Franken dafür zwischen 30 und 35 Prozent des Einkommens auf. Bei einem Brutto-Einkommen zwischen 10 000 und 12 000 Franken hingegen liegt der Anteil der Mietausgaben nur bei rund 15 Prozent.1 Mit anderen Worten: Je weniger Geld einem Haushalt zur Verfügung steht, desto mehr davon wird für das Wohnen in schlechteren Wohnlagen auf kleinerer Fläche ausgegeben.

Auch bei der Mobilität zeigte sich in den vergangenen Jahren ein deutliches Wachstum. Während die Statistik für das Jahr 1970 pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner 224 Autos angibt, sind es im Jahr 2019 540 Fahrzeuge.2 Menschen aus einkommensschwachen Haushalten weisen meist einen geringen Motorisierungsgrad auf und haben einen eingeschränkten Zugang zum öffentlichen Verkehr. Dagegen sind sie oft höheren Luft- und Lärmbelastungen ausgesetzt, etwa weil sie an vielbefahrenen Strassen leben. Diverse Studien weisen darauf hin, dass der Zugang zu öffentlichen Grünflächen in Städten ebenfalls sehr ungleich verteilt ist und zu Ungunsten von Menschen mit geringem Einkommen ausfällt.3,4 Solche Freiräume sind aber gerade in dichtbebauten urbanen Räumen wichtige Orte für Freizeitaktivitäten, Begegnung und Bewegung.

Andere Rahmenbedingungen schaffen

Mehr Autos und Einfamilienhäuser mit Garten für alle sind ökologisch nicht tragbar, im urbanen Raum nicht realisierbar und für viele Menschen vermutlich nicht einmal wünschenswert. Daher stellt sich die Frage, welche Möglichkeiten es gibt, Städte krisenfest und nachhaltig zu gestalten.

Eine Antwort lautet: eine Politik der Suffizienz. Suffizienz ist eine von drei Strategien, um unsere Gesellschaft nachhaltiger zu gestalten. Anders als Effizienz- und Konsistenzstrategien, die auf technische Innovationen setzen, versucht die Suffizienz, Nachhaltigkeit durch kollektive Verhaltensänderungen zu erreichen. Sie stellt die Frage nach dem richtigen Mass.

Häufig wird die Verantwortung für suffizientes Handeln bei den Individuen und Haushalten gesehen. Das scheint auf den ersten Blick naheliegend, zielt diese Nachhaltigkeitsstrategie doch darauf ab, dass Menschen ihr Verhalten ändern sollen. Jedoch hängt individuelles Verhalten zu grossen Teilen von kulturellen Leitbildern sowie infrastrukturellen und politischen Rahmenbedingungen ab. Was gesellschaftlich anerkannt ist, wie die Strasse vor dem Haus oder der Wohnung aussieht, wie Radwege beschaffen sind oder wie weit die nächste Bushaltestelle entfernt liegt, prägt massgeblich, wie Menschen ihren Alltag gestalten. Suffizienzpolitik setzt daher darauf, Rahmenbedingungen zu schaffen, die nachhaltiges Verhalten ermöglicht und nahelegt.

Das Wachstum ist begrenzt

Neben der Förderung nachhaltigen Verhaltens durch geeignete Rahmenbedingungen geht es bei der Suffizienz um eine massvolle Lebensgestaltung. So hat eine Suffizienzpolitik beispielsweise zum Ziel, den Verbrauch von Ressourcen zu begrenzen. Sie vertraut damit nicht auf eine hinreichende Entkopplung von Wachstum und Ressourcenverbrauch, sondern setzt voraus, dass das Wachstum Grenzen hat. Wenn aber Ressourcen nicht unendlich vermehrt werden können, rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie diese verteilt werden. Suffizienzpolitik bedeutet deshalb auch, die gerechte Verteilung zu thematisieren: Für wen oder was soll der städtische Raum zur Verfügung stehen? Welche und wessen Bedürfnisse sollen, müssen und können befriedigt werden?

Aus suffizienzpolitischer Sicht gilt es, auf der systemischen und nicht auf der individuellen Ebene nach Lösungen zu suchen: Welche Möglichkeiten gibt es, den Bedürfnissen nach Raum, Mobilität und Lebensqualität gemeinschaftlich Rechnung zu tragen? Aus dieser Perspektive zeichnet sich eine gute Mobilitätsinfrastruktur nicht mehr durch mehr Platz für mehr und grössere Autos aus, sondern dadurch, dass alle Menschen schnell und bequem von A nach B kommen. Gutes Wohnen ist auch in kleinen Wohnungen möglich, wenn es attraktive Aussenflächen und Angebote in der direkten Umgebung gibt.

Vom Verkehrsknoten zum sozialen Treffpunkt

Ein Beispiel für eine gelungene Suffizienzpolitik ist der Röschibachplatz in Zürich. Noch vor einigen Jahren war der Platz geprägt vom Autoverkehr – mit entsprechend geringer Aufenthaltsqualität. Im Jahr 2014 wurde dieser Platz auf Drängen des Quartiervereins stark verkehrsberuhigt und zu einem attraktiven und lebendigen Aufenthaltsort für Anwohnerinnen und Anwohner umgestaltet. Ziel war es, einen sozialen Treffpunkt im Quartier zu schaffen, für alltägliche Begegnungen genauso wie für organisierte Veranstaltungen. Offensichtlich mit Erfolg: Einer Umfrage zufolge sind 88 Prozent der Befragten mit der Umgestaltung zufrieden.5

Referenzen

1 BFS/BWO (2017) Durchschnittliche Mietbelastung nach Einkommensklassen 2006-2017. https://www.bwo.admin.ch/bwo/de/home/wie-wir-wohnen/wohnen-und-armut.html

2 BFS (2020) Fahrzeuge und Transportmittelbestände des Personenverkehrs, 1960-2019. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/mobilitaet-verkehr/verkehrsinfrastruktur-fahrzeuge/fahrzeuge.assetdetail.13607517.html

3 Böhme C, Franke T, Preuss T (2019) Umsetzung einer integrierten Strategie zu Umweltgerechtigkeit – Pilotprojekt in deutschen Kommunen. Umwelt & Gesundheit 02/2019. Umweltbundesamt 2019.

4 Cole H, Garcia Lamarca M, Connolly J et al. (2017) Are green cities healthy and equitable? Unpacking the relationship between health, green space and gentrification. Journal of epidemiology and community health 71/11 2017: 1181–1121.

5 Emmenegger B, Müller M, Fux S et al. (2017) Gewinnung und Analyse von Daten zur Qualität und Nutzung der öffentlichen Räume in der Stadt Zürich. Erhebungsbericht 2016. Tiefbauamt der Stadt Zürich. https://www.moderat.ch/files/projekte/2016_Erhebungsbericht_Roeschibachplatz_Bucheggplatz.pdf

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